Wie können die Blätter von Bäumen und deren Bewegungen sprachlich zum Ausdruck gebracht werden? Für subtile Beobachtungen und komplexe Phänomene wie diese fehlen oftmals die Worte, was Kurt Tucholsky in "Mir fehlt ein Wort" [1929] präzise zum Ausdruck bringt.
Weißt du, was die Birkenblätter tun? Wie sie sich im Wind bewegen und das Licht einfangen? Kurt Tucholsky, ein deutscher Schriftsteller, versuchte 1929 in "Mir fehlt ein Wort" genau das zu beschreiben. Doch er fand keine Worte, die genau ausdrücken, was er sah und fühlte.
Worte versuchen, Erlebnisse und Wahrnehmungen für andere zugänglich zu machen. Die Bewegung der Birkenblätter mag eine alltägliche Beobachtung sein, doch für dich kann sie bedeutungsvoll und tiefgründig sein, sodass du die Begrenztheit der Sprache spürst.
Tucholsky, auch bekannt als Peter Panter, beschreibt die tiefgründige Bedeutung dieser subtilen Beobachtungen und die Schwierigkeit, sie in Worte zu fassen. Damit spricht er vielleicht auch dir aus dem Herzen.
["Mir fehlt ein Wort" Kurt Tucholsky (Peter Panter) in: "Die Weltbühne" Nr. 38, 17.09.1929]
Ich werde ins Grab sinken, ohne zu wissen, was die Birkenblätter tun. Ich weiß es, aber ich kann es nicht sagen. Der Wind weht durch die jungen Birken; ihre Blätter zittern so schnell, hin und her, daß sie...was? Flirren? Nein, auf ihnen flirrt das Licht; man kann vielleicht allenfalls sagen: die Blätter flimmern...aber es ist nicht das. Es ist eine nervöse Bewegung, aber was ist es? Wie sagt man das? Was man nicht sagen kann, bleibt unerlöst – ›besprechen‹ hat eine tiefe Bedeutung. Steht bei Goethe ›Blattgeriesel‹? Ich mag nicht aufstehen, es ist so weit bis zu diesen Bänden, vier Meter und hundert Jahre. Was tun die Birkenblätter –?
[…]
Was tun die Birkenblätter –? Nur die Blätter der Birke tun dies; bei den andern Bäumen bewegen sie sich im Winde, zittern, rascheln, die Äste schwanken, mir fehlt kein Synonym, ich habe sie alle. Aber bei den Birken, da ist es etwas andres, das sind weibliche Bäume – merkwürdig, wie wir dann, wenn wir nicht mehr weiterkönnen, immer versuchen, der Sache mit einem Vergleich beizukommen; es hat ja eine ganze österreichische Dichterschule gegeben, die nur damit arbeitete, dass sie Eindrücke des Ohres in die Gesichtsphäre versetzte und Geruchsimpressionen ins Musikalische – es ist ein amüsantes Gesellschaftsspiel gewesen, und manche haben es Lyrik genannt. Was tun die Birkenblätter? Während ich dies schreibe, stehe ich alle vier Zeilen auf und sehe nach, was sie tun. Sie tun es. Ich werde dahingehen und es nicht gesagt haben.
Kurt Tucholsky´s Umgang mit Sprache ist herausragend. In der turbulenten Zeit der 1930er Jahre schreibt der Autor über seine Reflexionen, Gedanken und Gefühle zur politischen und gesellschaftlichen Lage unter anderem in der Wochenzeitschrift "Die Weltbühne". Seine Schriften sind heute so aktuell wie sie es in seiner Zeit waren.
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